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NEUES SEHEN – Eine Einführung

Katalogtext zur Ausstellung von Susanne Hinrichs, Liav Mizrahi und Norbert Bauer





Begonnen hat alles in Bremen – an einem Sommermorgen im Jahr 2005 während des Frühstücks. Dass die Anwesenden als Kuratoren-Team eine Ausstellung umsetzen würden, wie sie nun zu sehen ist, war damals nicht zu ahnen. Gesprächsthema waren die Ausstellungsbedingungen junger israelischer Künstler, von denen Liav Mizrahi, der sich damals als Stipendiat des Bremer Kunststipendiums, vergeben von der Bremischen Bürgerschaft und der Bremer Heimstiftung, längere Zeit vor Ort aufhielt, berichtete. Zu dieser Zeit gab es in einer lebendigen, kunstbesessenen, jungen Stadt wie Tel Aviv nur Ansätze einer jungen Kunstszene. Zwar ist Tel Aviv zum Magneten für israelische Kunstschaffende geworden, vergleichbar mit der Anziehungskraft Berlins. Aber man musste schon einen Namen, einen gewissen Rang innerhalb der Szene mitbringen, um Ausstellungsmöglichkeiten zu erhalten. Der Blick auf die ganz junge Szene fand quasi nicht statt und Möglichkeiten, außerhalb der Hochschulen sein Werk zu präsentieren, gab es kaum. Dieser Eindruck von der Situation in Israel und die Neugier auf die dortige Kunst, führten zu dem Entschluss, in Deutschland eine Ausstellung mit jungen Künstlerinnen und Künstlern aus Israel zu realisieren.
Bisherige Ausstellungen israelischer Kunst in Deutschland hatten meist einen explizit politischen oder historischen Fokus. Unser Interesse dagegen richtete sich auf die Vielfalt junger Kunst aus einer Region, die hierzulande vor allem aus den Medien bekannt ist.
Welche Themen greifen die Künstlerinnen und Künstler auf, wie nehmen sie ihren Alltag wahr, wie definieren sie ihre eigene Identität als israelische Frauen und Männer in einer Gesellschaft zwischen jüdischer Kultur und Religion einerseits und einer (Post-)Moderne mit stark sekularer Tendenz andererseits? So verzichteten wir auf thematische Vorgaben und begannen mit unseren Recherchen.
Aus über einhundert Mappen konnte nach zahlreichen Diskussionen und Überlegungen eine erste Auswahl getroffen werden, die es anschließend in den Ateliers vor Ort in Tel Aviv zu überprüfen galt. Dieser Blick auf das Original und der persönliche Kontakt zu den Künstlerinnen und Künstlern vertiefte und erweiterte die bisherigen Eindrücke.

Tel Aviv – 7 Tage, 40 Ateliers und Treffen mit Künstlerinnen und Künstlern, dazu Ausstellungen- und Galeriebesuche. Eine Rausch. Anfängliches Befremden war schnell dahin. Tel Aviv ist eine enorm lebendige Stadt, strahlt Lebenslust und unwiderstehlichen Charme aus. Zu Fuß, mit dem Taxi und per Bus erforschten wir die äußersten Winkel der Stadt, um die Künstlerinnen und Künstler in ihren Studios zu treffen. Sightseeing gab es nur am Rande, eben das, was auf unserem Weg lag. Der Empfang war überall herzlich und man kam schnell ins Gespräch über die jeweiligen Arbeiten.
Dabei wurden auch rasch unterschiedliche Sichtweisen zwischen deutschen Besuchern und israelischen Künstlerinnen und Künstlern deutlich, was zu eindringlicheren Fragen und Diskussionen führte: „Was hat Dein Werk mit Deiner Kindheit im Kibuz zu tun?“ „Wie wirkt sich Deine Erfahrung als Frau beim Militär in dieser Installation aus?“ „Welche Rolle spielt der permanente Konflikt vor der Haustür in Deiner Fotografie?“ Nach und nach ergaben sich die Verknüpfungen von Werken und Lebensläufen, gesellschaftlichen Hintergründen sowie kulturellen Blickwinkeln. Durch diese Gespräche entwickelte sich die Ausstellung zu einem Ganzen. Die unterschiedlichen Strategien der Künstlerinnen und Künstler in ihren ebenso unterschiedlichen Werken vereinigten sich allmählich zu einem inhaltlichen Gefüge, welches die letzte und endgültige Werkauswahl sinnfällig werden ließ.

Die entstandene Ausstellung erhebt nicht den Anspruch, die vielfältige und in letzter Zeit international immer stärker beachtete Szene in Israel umfassend zu beleuchten oder zu repräsentieren. Sie wirft vielmehr ein Schlaglicht, zeigt einen konzentrierten Ausschnitt aktueller Themen und künstlerischer Ausrucksformen.
Raumbezogene Arbeiten, Objekte und Installationen bilden dabei einen Schwerpunkt. Viele Arbeiten wurden extra für die Ausstellung in Bremen und Syke konzipiert und vor Ort ausgeführt. Bei aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit ist allen Positionen eine auffällige Klarheit im künstlerischen Ausdruck gemeinsam. Die Arbeiten sind prägnant formuliert und, wo es das Thema verlangt, sind sie von hoher handwerklicher Qualität. Darüber hinaus verbindet viele Arbeiten, dass sie aus alltäglichen Materialien bestehen. Damit erschließen sich die Künstlerinnen und Künstler nicht nur neue Möglichkeiten und Ausdrucksformen, sondern sie definieren auch den Alltag, dem diese Materialien entstammen, neu - und stellen auch so die sie umgebende Normalität und ihre scheinbaren Sachzwänge zur Diskussion.

Identitäten in Bewegung
Im Fokus vieler Arbeiten steht die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität in Zeiten eines sich seit den 90er Jahren immer deutlicher abzeichnenden gesellschaftlichen Umbruchs. Neue Möglichkeiten der Identifikation und der Selbstinszenierung sind nicht nur Ausdruck eines verstärkten Hangs zum Eskapismus angesichts einer zunehmend als unveränderbar empfundenen innen- und außenpolitischen Dauerkrise. Vielmehr drückt sich in ihnen eine Diversifizierung der Lebensstile und, damit einhergehend, ein verstärktes Einfordern des Rechts auf Annerkennung und Selbstbestimmung in weltanschaulichen, ethnischen oder sexuellen Belangen aus. Die Künstlerinnen und Künstler behandeln diese Themen oftmals anhand ihrer eigenen (Familien-) Geschichte, ethnischen Zugehörigkeit oder ihrer Sexualität. Die fragil gewordenen Identitäten, das sich selbst beobachtende oder sich neu definierende Ich setzen dabei auch den eigenen Körper als Material oder Modell ein. Die Künstler werden selbst zu Protagonisten oder Gegenstand der künstlerischen Arbeit. Die Videoarbeiten von Einat Amir und die gemalten Selbstportraits von Talya Raz sind hierfür die augenfälligsten Beispiele.

Blicke nach außen und innen
Zu den Konzepten, die sich eher mit Fragen der Abgrenzung beschäftigen, gesellen sich viele Arbeiten, die auf ganz verschiedenen Wegen versuchen, die unmittelbare Umgebung der Künstlerinnen und Künstler, die gesellschaftliche Situation oder den israelischen Alltag und die Geschichte aus neuen Blickwinkeln zu erforschen. Architektur oder Landschaft , wie in den Bildern und Objekten von Ruth Orr, können dabei ebenso Thema sein wie die alltägliche Terrorgefahr und die damit verbundene Allgegenwart von Militär und Sicherheitskontrollen. Mit der wechselhaften Geschichte der Region und den Spuren, welche sie in der Landschaft und den Menschen hinterlassen hat, beschäftigen sich die Fotografien Assaf Evron, die Videos von Lior Shvil und die Objekte und Inszenierungen von Ravit Mishli. Sie thematisieren Ereignisse und Mythen der Vorgeschichte Israels, des Befreiungskampfes oder der seit 1948 geführten Kriege. Barak Ravitz untersucht in seinen Videos heutige Klischees und Vorstellungen über das Militär in der israelischen Gesellschaft.
Spezifisch israelische Gegenstände des täglichen Lebens werden zu Objekten kühler Beobachtung, überdrehter Parodie oder einer - scheinbar - ausschließlich formal-ästhetischen Analyse, wie beispielsweise die „Spanischen Reiter“ von Avital Cnaani, der „Bus“ von Gali Grinspan oder Liat Kuchs irritierende Skulpturen im Außenraum. Auch die Videoinstallationen von Talya Keinan verstören durch geschickte Überlagerung verschiedener Realitätsebenen. Dagegen bildet Rona Yefmans gut halbstündiger Film „The Two Flags“ – eine überdrehte Variante von „Räuber und Gendarm“ – einen traurig-sarkastischen Kommentar des israelisch-palästinensischen Konflikts. Der Fotograf Shai Kocieru verweist in seinen Portraits auf den Zusammenhang zwischen ethnisch -religiöser Zugehörigkeit, ausgeübtem Beruf und gesellschaftlicher Stellung. Anna Yam und Nurit Sharett beschäftigen sich in unterschiedlicher Weise mit Klischees, Vorstellungsbildern und Vorurteilen, die innerhalb der israelischen Gesellschaft herrschen.
Diese Arbeiten werden erst möglich durch die Fähigkeit, eine Distanz zum scheinbar Vertrauten einnehmen zu können. Die Künstlerinnen und Künstler akzeptieren ihre Umgebung nicht als gegeben, sie verweigern sich den gängigen Definitionen, die das gesellschaftliche Leben, die politische Realität und den künstlerischen Blick darauf zu regeln versuchen. In ihren Arbeiten verdeutlichen sie gesellschaftliche Strukturen und Zusammenhänge. Aber ebenso scheint darin, wie zum Beispiel in den Fotos von Gaston Zvi Ickovicz, das Absurde hinter der Normalität, das Fremde im Immer-Gleichen und die Poesie im scheinbar Nebensächlichen auf.

Popular Culture
Ein weiterer Schwerpunkt in den Strategien der jungen Künstlerinnen und Künstler ist die Übernahme und Verarbeitung von Motiven und Formen aus verschiedenen popkulturellen Bereichen. Ariela Plotkin dreht ein Musikvideo, Maja Attoun bezieht sich auf Elemente des „Gothic“ und Nama Tsabar erforscht in ihren Installationen und Performances die ‚Hardware’ des Musikbusiness. Assi Meshullam vermischt in seinen Zeichnungen Formen traditioneller Bilderzählung mit Pop- und Comicelementen, ähnlich wie Dana Darvish, die in ihrem Video eine Tragödie griechischen Ausmaßes mit Mitteln des Zeichentricks und in dadaistischer Manier erzählt. Für die Künstler gehören diese Elemente zum alltäglichen ästhetischen Fundus. Sie kombinieren Motive der globalen Popular- und Jungendkulturen mit lokalen und traditionellen Techniken und Themen. Sie bedienen sich der künstlerischen Strategien des Sampling oder Crossover, wie andere junge Künstlerinnen und Künstler überall in der Welt auch. Auffällig ist dabei aber das Maß, in dem populäre Musik in die Arbeiten integriert wird oder die wiederholt auftretende Doppelfunktion als Künstler und Musiker.

Traumwelten und Fluchtpunkte
Auch Shunit Kushnir bezieht sich auf ein Produkt der Massenkultur. Der von ihr gezeigte Film thematisiert aber vor allem individuelle Traumata und Fluchtbewegungen des Ich. In Fantasie-, Traum- oder vermeintliche Idealwelten führen auch die Bilder von Tal Yerushalmi, Inbal Nissim und die Zeichnungen Hillel Romans. Die Stoffbilder und seltsamen Objekte von Guy Goldstein transformieren scheinbar spielerisch alltägliche Gegenstände. Betrachtet wie durch die Augen eines Kindes – also aus einer Perspektive, aus der alles möglich ist – gerät die „Ordnung der Dinge“ durcheinander. Die Erinnerung an die Erfahrung der Erwachsenenwelt als Kind, an ihre Dimensionen, räumlichen Beschränkungen und einzigartigen Möglichkeiten prägt die Arbeit von Orly Sever. Den mentalen Raum, die sichtbar gemachte Vorstellungswelt erweitert Vered Levi wiederum um eine historische Dimension der Erinnerung. Ihre raumgreifende Installation, für die sie über zwei Wochen in Bremen Material sammelte, schlägt so nicht nur inhaltlich, sondern auch materiell einen Bogen nach Deutschland.