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Von Bilder-Kosmen, Raum-Bildern und anderen fiktiven Realitäten

Einführung Susanne Hinrichs im Katalog zum Paula Modersohn-Becker Kunstpreis 2010





In Deutschland gibt es zahlreiche Kunstpreise mit unterschiedlichen Konzepten, Ausrichtungen, Preisgeldern und Renommee. Auch der Norden der Republik weist zum Teil seit mehreren Jahrzehnten diverse Preise für bildende Künstler auf. In diesem Umfeld einen neuen Kunstpreis ins Leben zu rufen, scheint angesichts der großen Konkurrenz mutig, denn die Aufmerksamkeit auf einen Landstrich, die der Preis letztendlich generieren soll, ist nicht ohne weiteres zu erzielen, auch wenn es natürlich nicht genügend Preise geben kann, um Künstler in ihrer Arbeit zu fördern. Attraktiv wird ein Kunstpreis für Künstler nicht allein durch sein Preisgeld, desgleichen spielen die Besetzung der Jury, der Ausstellungsort und die teilnehmende Konkurrenz eine Rolle dabei, ob und wer sich für diesen Preis bewirbt.
Der Landkreis Osterholz ging also ein Risiko ein, als er beschloss einen Kunstpreis für die Metropole Nordwest auszuloben. Die Offenheit aber mit der die Regularien des Wettbewerbs bestimmt wurden, ließ die Ausschreibung zu einem Erfolg werden und trägt dem Namen »Paula Modersohn-Becker Kunstpreis« in allen Belangen Rechnung, indem er die Worpsweder Künstlerin des 20.Jahrhunderts wegen ihrer eigenständigen künstlerischen Haltung als Referenzpersönlichkeit zitiert.
Demnach fiel es der Jury nicht leicht sich aus den fast 300 Bewerbern auf nur wenige Künstler zu einigen, deren Arbeit das Potential Preisträger zu werden mitbringt. Die Qualität vieler eingereichter Bewerbungen war derart überzeugend, dass äußerst sensible Kriterien angewendet wurden, um eine Auswahl zu treffen. Neben der Frage nach der technischen Ausführung kamen Beurteilungen hinsichtlich der Konsequenz und Innovation des künstlerischen Ansatzes und seiner präzisen fachkundigen Umsetzung hinzu. Lässt sich eine Stringenz in dem Gesamtwerk ablesen, wird eine Leitfrage thematisiert, entstehen gute Arbeiten beliebig oder mit dem nötigen künstlerischen Bewusstsein?
Die am Ende fünfzehn ausgewählten Positionen für den Hauptpreis, sowie die Sonderpreis- und Nachwuchspreisträger, bewertet die Jury allesamt als Gewinner per se. Die Abweichungen der genannten Qualitätsfragen sind innerhalb dieser Setzung nur noch als marginal zu bezeichnen und daher erst vor dem Original abzuwägen. Beeindruckend ist daneben aber auch die Vielfältigkeit der künstlerischen Positionen und deren jeweiliges Alleinstellungsmerkmal. Aus den eingereichten Bewerbungen wird ein erfreulicher Formenreichtum und Mannigfaltigkeit innerhalb der zeitgenössischen Kunst ersichtlich, die beweist, dass die Kunst und ihre Künstler lebendig, kreativ und innovativ sind, wie zu manch besten Zeiten der Kunstgeschichte.
Die kuratorische Verantwortung lang nun darin, neben einer ansprechenden Ausstellung für das Publikum vor allem eine für alle Teilnehmer gerechte und bestmögliche Präsentation ihrer Werke innerhalb der Ausstellungsräume zu erreichen. Die benannten Positionen konnten unterschiedlicher nicht sein. Die verschiedenartigen medialen Ausführungen von Malerei, Wand- und Rauminstallationen, Videos und Skulpturen sowie vielgestaltige künstlerische Ansätze versprachen jedoch, in einer anregenden Ausstellung zu kulminieren. In einigen Fällen sind neue Arbeiten entstanden, die sich oftmals auf die Architektur des Ausstellungsgebäudes beziehen oder aber die vorhandenen Einrichtungen für künstlerische Eingriffe nutzten. Andere Arbeiten konnten ihre Nische finden, in der sie zur optimalen Geltung gelangen. Am Erstaunlichsten und Erfreulichsten jedoch ist die Dialogbereitschaft der Werke mit ihrem Gegenüber, aus welcher für den Besucher ein anregender Parcours durch aktuellstes Kunstgeschehen entstanden ist.

Räumliche Interventionen
Patricia Lambertus reagiert mit ihren Arbeiten auf den Raum. Jeglicher denkbare Ort, sei es ein »white cube“, ein Keller oder verlassenes Gebäude wird für sie Inspirationsquelle für neue raumspezifische Eingriffe. Dabei ist einzig die Treue zum Material ein immer wiederkehrendes Kontinuum, welches Widererkennbarkeit und Alleinstellungsmerkmal generiert. Die ursprünglich zur Wärmedämmung und später zunehmend für dekorative Zwecke erdachte Tapete verwendet Lambertus in völlig neuen Kombinationen. Nicht mehr die Ausschmückung eines Raumes steht im Focus dessen, was die papiernen, ledernen, golddurchwirkten, ornamentalen oder farbenfrohen Rollenpapiere bezwecken sollen, sondern hier entpuppt sich die Absicht Raumcharakteristika zu betonen oder aufzuheben und ihnen neue Strukturen zu verleihen. Der Bruch mit jener traditionellen Aufgabe der Tapete vollzieht sich jedoch nicht nur räumlich, sondern im Wesentlichen durch die Verwendung von eigenen Restmaterialien und örtlichen Fundstücken, die durch Collagetechnik zu ungewohnten Bildfindungen führen. Folglich treffen zwei Ebenen aufeinander: die erstmalige Kombination von Bruchstücken – hier gerissenen Tapeten – folgt einer ästhetischen Auseinandersetzung mit der Wand, dem Boden oder der Decke als Bildträger und erzeugt so ein heterogenes Raumgefühl. Beginnend aber mit der inhaltlichen Analyse des Ortes generiert sich ein sinnfälliges Zusammenspiel von Vorhandenem und neu Hinzugefügtem, also von dem jeweiligen Raum und dem künstlerischen Eingriff, welches das Gesamtwerk nicht auf seine rein ästhetische Erscheinung reduziert sondern Geschichte(n) transportiert.

Mit räumlichen Eingriffen in den jeweiligen Ausstellungsort thematisiert Christian Helwing die Grenzen von Kunst und Architektur sowie deren Schnittstellen. Dabei verkörpern die entstehenden Werke weder den klassischen Begriff der Skulptur noch handelt es sich um architektonische Einbauten im herkömmlichen Sinne. Vielmehr befragen die von Helwing entwickelten Raumkonzepte die Wahrnehmung des Betrachters, seine räumliche und zeitliche Verortung, indem dieser nicht das Kunstwerk allein rezipiert, sondern mit dem Werk interagiert. Ohne das Größen- und Zeitverhältnis von Helwings baulichen Maßnahmen, der Betrachtung und der Reflektion der eigenen Verhaltensweisen der Besucher, wäre das Kunstwerk an sich nicht existent. Geradezu in diesen Relationen bestehend, verankert sich das Werk auch in der realen Existenz des Ortes mit allen seinen sozialen, historischen und repräsentativen Beziehungen.
Die bisher radikalste Ausführung dieses künstlerischen Ansatzes gelingt für die Ausstellung zum »Paula Modersohn-Becker Kunstpreis«. Der Shop der Kunsthalle Worpswede ist deren existentielle, und somit finanzielle, Grundlage, die die langjährige Ausstellungstätigkeit des Hauses weitgehend ermöglicht. Obwohl hier im Wesentlichen Reproduktionen der vergangenen Künstlergenerationen der Worpsweder Künstlerkolonie verkauft werden und folglich keine Kunst an sich zu finden ist, bildet der Shop die Seele dieses Ortes. Helwing erklärt den Shop zu seinem künstlerischen Projekt. Indem er diese Behauptung, ganz im Duchampschen Sinne aufstellt, wird die überbordende Ansammlung von Postkarten und Postern den Originalwerken der eigentlichen Ausstellungsräume gleichgestellt. Ohne materiellen Eingriff erzeugt er infolgedessen einen Focus auf diesen Raum und thematisiert seine soziale und historische Relevanz. Wie in den vorangegangenen Arbeiten in situ lotet er mit seiner »Übernahme« die Grenzen von Kunst und Architektur aus und bleibt seinem künstlerischen Thema auf ganz neue Art und Weise treu.

Ortsbestimmungen
Ein Ort bringt spezifische Eigenschaften mit sich, die sich anhand von architektonischen Merkmalen, Standort, Umgebung und Geschichte mehr oder weniger leicht feststellen lassen. Andere Parameter wie Luftströme, Wind, Wasserbewegungen oder tageszeitabhängige Sonnenstände bedürfen auch einer genauen Analyse, aber vor allem einer Sichtbarmachung.
Mit diesen Phänomenen arbeitet Malte Schweiger. Gleich einem Forscher und Experimentator untersucht er den Bewegungsrhythmus von Folien im Wind, Luftballons im Raum oder Papier über einem Heizkörper. Der Versuchsaufbau mit einfachsten Materialien umgesetzt, dem seine Installationen teils entsprechen, zeugt dabei von präziser Beobachtungsgabe. Oftmals bleiben seine Werke für den Betrachter im Verborgenen, wenn er nicht genau hinsieht, nicht alle Antennen aufstellt, so wie Malte Schweiger es zu tun scheint. Bemerkt man aber die unauffälligen und von Energie-Ressourcen angetriebenen Raumsetzungen, vollzieht sich ein fremdartiges Staunen oder Verwundern, stellt sich ein wissendes Verstehen ein, welches nicht selten ein Schmunzeln nach sich zieht. In dieser Ambivalenz von Humor und Ernsthaftigkeit, von Forscherdrang und Lebensnähe liegt die Poesie seiner Werke. Sie kommen so still, wenn auch nicht lautlos, so bescheiden daher, um dann mit aller Macht unsere Sinne zu berühren.

Von Versuchsanordnungen spricht auch Alexander Steig, wenn er seinen künstlerischen Ansatz beschreibt. Seine oftmals raumgreifenden, z. T. ganze Gebäude erschließenden medialen Interventionen versteht er als zeitlich begrenzte Inszenierungen, die sich auf architektonische, historische oder soziale Vorgaben des jeweiligen Ortes beziehen. Häufiger Gegenstand seiner Untersuchung ist die Veränderung der Wahrnehmung einer realen Situation durch die Verortung und Dekontextualisierung ihres medialen Erscheinungsbildes, Fragen zur Fiktion im realen Kontext sowie mediale Überwachungsstrategien. Der Betrachter kann innerhalb dieser »Closed-Circuit“-Modelle zu einem Teil des Experiments werden, sobald er sich, mitunter unwissend, der Live-Übertragung via Kamera aussetzt und so als Protagonist innerhalb der Videoinszenierung agiert. Die Komplexität der Einsetzungen erschließt sich dabei zumeist erst nach wiederholtem Durchschreiten des Ortes.
Steig operiert bildnerisch mit Fragestellungen zu Täuschung oder Fälschung, mediale Be- oder Überwachung, Gesellschaft und Individualität, Privatsphäre und Öffentlichkeit. Er lässt den Betrachter zuweilen im Unklaren über seinen Standpunkt. Ist er betrachtendes Subjekt oder betrachtetes Objekt, oder beides zugleich? Dieser Zustand, der zeitweilige Verunsicherung, ja Beklemmungen auslöst, kann jedoch zu einer veränderten Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung führen. Steig beherrscht die Regeln der konstruierten Wirklichkeit, er nutzt ihre Mechanismen um Realität vorzutäuschen, wo keine ist. Gleich einem Regisseur inszeniert der Künstler eine mal faszinierende, mal bedrohliche, mal harmlos scheinende Welt, fordert auf, in diese einzutreten und wirft seinen Gast zuweilen unsanft aus dieser Utopie wieder heraus.

Das Leit gebende Stichwort des Künstlerduos Steinacker/Willand könnte »Verortung« lauten und meint soviel wie die Befragung des Raumes, in diesem Fall des Landschaftsraumes. Die Videoarbeit »Ansichten« erscheint wie eine Synthese der verschiedenartigen künstlerischen Perspektiven und vereint die unterschiedlichen Strategien des Künstlerduos. Eine rasante Fahrt durch idyllische Landschaften zeigt schweizerische Bergmassive, grüne Wiesen und – hoppla – norwegische Fjorde. Hier offenbart sich das Trügerische erstmals, um sich im weiteren Verlauf zunehmend aufzulösen. Seltsame »Bildrealitäten« entstehen, die keiner Realität entlehnt worden sein können, offensichtlich stellt sich eine Künstlichkeit ein, weiße Papierschnipsel, noch getarnt als Berggipfel kommen ins Spiel, und offenbaren sich am Ende als die Rückseiten der Postkartenansichten, die zunächst den realen Raum mimten. Eine wirkliche Reise des Künstlerduos in die real existierende Welt jener Landschaft ergab, dass dieses Bildmaterial, welches als Träger ihres Videos diente, nicht der Realität entsprach, die es vorgaukelte und mithin das Vorgetäuschte potenzierte. Das Abbild im realen Raum wiederzufinden, erwies sich als Unmöglichkeit. Mittels zahlreicher künstlerischer Taktiken verhandeln Steinacker/Willand den Ort in seinem Widerspruch als zeitgleich real und virtuell existierend. Sie eignen sich dabei sowohl die virtuelle Welt des world wide web, als auch den vermeintlich »wahren« Stadt- oder Landschaftsraum an, um poetisch und zuweilen ironisch sich selbst in dieser Welt zu verorten.

Wunderkammern
Fransiska C. Metzger ist eine Meisterin der Wunderkammer. In ihren Interieurs aus Holz, Latten, Platten und gefundenen Objekten erzählt sie wundersame Geschichten, generiert aus den abgründigen, humorvollen und zuweilen geheimnisvollen Zuständen des Lebens. Sie schafft bühnenartige Rauminstallationen in denen sich Bilder und Sprache, Laute und Musik, Geschichte und Gegenwart, Poesie und Grauen atmosphärisch verdichten. Die gelegentlich integrierten Videos changieren zwischen Spektakel und Stille, erzählen von den Absurditäten des Alltags, formulieren dichterische Weisheiten und ziehen den Betrachter in ein ländliches Idyll voller Geheimnisse. Immer wieder entstehen Butzen und Buden, merkwürdig schief, nur in gebückter Haltung zu betreten oder gar nicht. Der Blick auf diesen Urzustand von Behausung wirft uns zurück auf das Sein, offenbart alles Menschliche, seine Ängste und Hoffnungen, Sehnsüchte und sein Unvermögen.
Ganze Einrichtungen zimmert Metzger aus Holz, sei es ein Fernseher, ein Klavier, eine Liege oder Deckenventilatoren. Diese Gegenstände wirken unbeholfen und deplaziert, manchmal surreal und doch entsteht ein gesamtes Raumgefüge, welches Heimat symbolisiert. Alles immer ein wenig schräg, nicht nur im handwerklichen Sinn, ebenso wie die Charaktere der Videos. Auch sie scheinen aus einer anderen Zeit entsprungen und sind uns dennoch so nah. Ihre bedeutungsschwangeren Floskeln bergen bei aller Komik einen Funken Wahrheit, denn wer ist nicht auf der Suche nach seinem wahren Platz in dieser Welt?

Christian Haakes Welt ist das Modell. In diesen Miniatur-Kammern als scheinbares Abbild von Wirklichkeit arbeitet er sich an seiner persönlichen Erinnerung des einst Gesehenen ab und konstruiert ein modellhaftes Weltbild neu, indem er durch die Verdichtung der Realität ihr eigenes Gegenbild erschafft. Die größtmögliche Annäherung an Lebenswirklichkeit kreiert Haake nicht, während er Vorbilder eins zu eins in einem neuen Medium abbildet, sondern wenn er auf seine Vorstellung von Leben, zusammengesetzt aus zahlreichen Erfahrungen, Begegnungen und erinnerten Bildern, zurückgreift. Damit gelingt ihm neben einer bildlichen Verdichtung des Realen gleichsam ein transformatorischer Prozess, der in einer spürbaren Nähe zum Abbild mündet. Die Strategie der Anwendung falscher Proportionen, der Überspitzung oder Reduzierung innerhalb des Werkes führt am Ende eher zu einer Glaubhaftmachung der vorgetäuschten Realität, als es die wirkliche Realität vermag. Diese Fehlerhaftigkeit, die sich immer aus dem Arbeitsprozess heraus in das Werk einschleicht und eben NICHT korrigiert wird, wirft die philosophische Frage auf, wie viele Realitäten es denn geben kann. Folgt man Haakes künstlerischer Problemstellung, so ergeben sich unendliche Konstruktionen von Wirklichkeit, die jeweils auf der individuellen Erinnerung des Einzelnen basieren. Haake nimmt Maß an der Welt. Dass er dabei oftmals das Maß verliert, ist kalkuliert, wenn auch nicht gesteuert. Die subjektiven Verfehlungen von Größen und Ordnungen sind zutiefst menschlich und verdeutlichen auf emphatische Weise die Fehlbarkeit des Einzelnen.

Hermaphroditen sind keine Fabelwesen und dennoch werden er_sie immer wieder mit der Welt der Mythologie, Monster und Märchen in Verbindung gebracht. Ins A Kromminga vereinbart in seinen_ ihren Zeichnungen und daraus entwickelten Wandinstallationen jedoch selber die humanmedizinische Geschichte der Zwitter, mythologische Gestalten und Aliens, die jeweils von der Andersartigkeit menschlicher Gestalten zeugen und Befremdlichkeit auslösen. Seine_Ihre vielschichtigen Installationen lesen sich wie ein Manifest über die Brutalität, mit der aus medizinischer und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit gegen die sog. nichtkonformen Zwitterwesen vorgegangen wird. Er_sie collagiert mit Materialien aus medizinhistorischen Abbildungen, Sciens-Fiction und eigenen Zeichnungen neue Zusammenhänge und verdeutlicht die tradierten Haltungen einer Gesellschaft, die bis heute bestrebt ist, Andersartigkeit zu normieren, anstatt sie zuzulassen. Mit drastischen bildnerischen Konfrontationen, wie die Kontrollinstrumente zur Genitalvermessung in Verbindung mit dem Modelabel »Prada“, verweist der_die Künstler_in auf Intoleranz einer Gesellschaft gegenüber Andersartigkeit und gleichzeitiger Uniformierung als Unterwerfungsstrategie. Die teils schönen, aquarilierten und romantisch anmutenden Zeichnungen schockieren beim zweiten Blick durch ungeschönte Nahsicht auf zwitterartige Geschlechter ebenso wie mittels drastischer Textaussagen, die die Blätter durchkreuzen. Damit erreicht Kromminga Betroffenheit, aber vor allem öffnet er_sie eine Tür zum gegenseitigen Verstehen.

Bildräume
Die Malerin Sibylle Springer schafft Bilder, die zwischen realen Orten und irrealen Wahrnehmungen angesiedelt sind. Ihre vielschichtigen Arbeiten sind nur nach langer Betrachtungszeit wirklich zu durchdringen, will man die unterschiedlichen Ebenen tatsächlich erfahren. Sie arbeitet technisch betrachtet mit nuancenreichem Farbreichtum, changierend und schillernd, durchlässig und lasierend bis hin zu deckendem Farbauftrag.
Ein New York Aufenthalt stiftete die Künstlerin an, den Blick von der Opulenz der Großstadt abzuwenden und auf die nebensächlichen Geschehnisse, die alltäglichen Zufälligkeiten zu lenken, um den Betrachter auf eine Reise in das scheinbar Belanglose mitzunehmen. Zunächst waren es die zahlreichen Graffities auf den Wänden der U-Bahnschächte der Stadt, die kaum einer mehr wahrzunehmen schien. Sie lagen verborgen im Dunkeln, bis Springer den Schatz der Unterwelt ans Licht holte. Diese momenthaften Erscheinungen bannt die Künstlerin während eines langwierigen Arbeitsprozesses Schicht um Schicht auf ihre Leinwand und konterkariert damit die in wenigen Sekunden entstandenen fotografischen Vorlagen. Ähnlich verhält es sich mit den neueren Arbeiten. Die nur wenige Sekunden andauernde Regensequenz in den Straßen New Yorks transformieren die reale Straßenszene in ein geradezu abstraktes Bild. Menschen und Straßenverläufe werden überlagert von herabfallenden und aufspringenden Regentropfen, der Bildraum wirkt wie verschleiert und undurchdringbar, als wäre man plötzlich der Wirklichkeit entrückt.

Die Definition des Raumes ist immer auch ein individueller Prozess und assoziiert zahlreiche Bilder. So verhandelt es auch Cordula Prieser, wenn sie kraft ihrer Raum umschreibenden Hohlkörper die Gegensätze von Grenze und Öffnung, Dynamik und Statik, Innen und Außen erörtert. Dabei nehmen ihre Objekte verschiedene Ausmaße zwischen Handteller groß bis Raum füllend an. Die umstrickten, aus Aluminiumstreifen geformten kleineren Objekte evozieren oftmals den Versuch einer Beschreibung beginnend mit: »… sieht aus wie … ein Raumschiff, ein Bauhaus-Gebäude, ein U-Boot oder eine Garten-Liege«.
Während die Form sich jedoch zunehmend absurd und scheinbar ohne inneren Sinn generiert, verleiht der gestrickte Korpus durch seine schmeichelnde Oberfläche dem Objekt Empathie. Die Modelle verleiten zum Anfassen, sie erinnern in ihrer Haptik und Farbgebung an eine vertraute Umgebung und kompensieren dadurch das Fremdartige der Form. Während die farbliche Gestaltung bedingungslos der Form folgt, entwickelt sie dennoch eine autonome Sprache, die zuweilen der Figur überlegen scheint. Die Ein- und Ausblicke gewähren wandelbare Perspektiven sowohl in das Innere der Konstruktion, als auch auf den sie umgebenden Raum. Sie befragen somit nicht nur sich selber und ihren eigenen Raum, sondern setzten auch ihr Umfeld in ein neues Licht.

Gefunden/Erfunden
Die Liste künstlerischer Inspirationsquellen ist lang. Sie reicht von historischen Begebenheiten, aktuellen Nachrichten, alltäglichen Geschichten bis zu gesellschaftlichen und/oder politisch relevanten Themen. Gefunden in Literatur, Fernsehen und Zeitungen, dem Film oder Internet bedienen sich Ralf Tekaat und Astrid Nippoldt in diesem unerschöpflichen Fundus ewig neuer/alter Geschichten.
Nach oftmals langen und intensiven Recherchen entwickelt Ralf Tekaat Wand füllende Installationen bestehend aus Notizzetteln, Fotokopien, Post-it‘s, Buchseiten und eigenen kleinen Skizzen. Der Betrachter vermag sich in einem Wust von Informationen verlustieren und den gelegten Spuren folgen, doch er kann sich niemals sicher sein, wo die Grenzen von Wahrheit und Fiktion verschwimmen. Rein assoziativ entstehen Zusammenhänge, welche sich an anderer Stelle zu widersprechen scheinen, als sogenannte Fakten dargelegte Äußerungen muten bekannt an, doch der absolute Wahrheitsgehalt lässt sich an Ort und Stelle nicht ermitteln. Tekaat führt den Betrachter aufs Glatteis, er lässt ihn schwimmen in einer Flut von Behauptungen und gibt sich dabei stets seriös.
Mit dem Titel legt Tekaat eine Fährte, die dem Betrachter als Orientierungshilfe dienen kann, aber nicht muss, denn in dem großräumig angelegten Netzwerk des vielfältigen Bildmaterials und der einfließenden Textpassagen, welche sich gleichberechtigt gegenüber stehen, entsteht eine unauflösbare Verzahnung von Wirklichkeit und Erfindung. Auch die großformatigen Zeichnungen, die häufig den Installationen unmittelbar zugeordnet sind, helfen da nicht weiter. Die schwarzen Objekte bleiben rätselhaft, sie geben sich auch nach langer Betrachtung nicht zu erkennen und verschweigen ihre Herkunft ebenso, wie sie die Frage nach ihrem Realitätsgehalt nicht beantworten.

Einige frühere Video-Arbeiten von Astrid Nippoldt basieren auf gefundenen Situationen, Begegnungen im Alltag oder Erlebnissen auf Reisen, die die Künstlerin mit ihrer Kamera festhielt. Entstanden sind anschließend durch die Bearbeitung von Schnitt und Ton kraftvoll poetische Bilder über Menschen und Natur. Für die neueren Arbeiten sucht Nippoldt, ausgehend von einer bestimmten Fragestellung, bewusst Bilder im Internet und lässt sich dennoch von der Fülle und der Vielfalt des Gefundenen über- raschen.
Mit Hilfe dieser konzeptuellen Herangehensweise recherchierte Nippoldt etwa für die Arbeit »Queue« Haltungen und Gebärden von »Suchenden« und verdeutlicht damit eine doppelte Strategie: Ihre gefundenen Abbilder von Arbeitssuchenden thematisieren auf der einen Seite die in unserer Gesellschaft immer wiederkehrenden Krisensituationen, in denen Menschen nach Arbeit suchen, um zu überleben. Die digitale Bearbeitung transformiert den Bilderreigen aber in eine andere Dimension, in der die Suche an sich als ein Ausdruck von Menschlichkeit und als eine emotionale Geste dargestellt wird. Damit verfolgt Nippoldt weiterhin ihr künstlerisches Interesse an den Übergangsprozessen von Ereignis zu Fiktion ebenso, wie sie sich immer wieder bewusst dem Kontrollverlust aussetzt, um zu neuartigen schöpferischen Ideen zu gelangen.

Maschinell gesteuert
Die Installationen der Künstler Walter Zurborg und Stefan Demming basieren häufig auf von Maschinen gelenkten Elementen. Ihre Werke geraten durch computergesteuerte Motoren in Bewegung und laden den Betrachter zuweilen zur Interaktion ein.
Dabei steht der Klang im Werk Walter Zurborgs stets im Mittelpunkt. Unter abstrusen Bedingungen veranlasst der Künstler Drähte, Motoren, Seile und Metall, aber auch Luft und Wasser Klänge zu erzeugen. Dafür baut er aufwändige Konstruktionen, die eigens dafür gedacht sind einen simplen Ton zu generieren. Doch die Verknüpfungen dieser zahlreichen Einzelteile muten grobschlächtig, fast nachlässig an, wenn den Verklebungen und Verschraubungen so offensichtlich wenig formale Aufmerksamkeit geschenkt wird. Oftmals geraten Zurborgs archaisch wirkende »Maschinen« in Bewegung und mimen dramatische Vorgänge wie Wind und Wetter, physikalische Prozesse oder Urkräfte der Natur. Doch immer versteckt sich hinter den Arbeiten auch ein humorvolles Augenzwinkern, insbesondere, wenn der begleitende Titel hinzugezogen wird. Dieser verwandelt die Künstlichkeit in eine allzu menschliche Sichtweise, gibt Rätsel auf oder entlarvt, lässt Assoziationen erscheinen und verzaubert. Der Künstler spürt elementaren Erlebnissen und Erfahrungen nach, um ihnen eine universelle Bildsprache zu verleihen. Obwohl seine Aufbauten aus einfachsten, abermals gebrauchten Materialien entstehen, erzeugen sie eine gedankliche Komplexität, die zuweilen an Spiritualität heranreicht. Bezug nehmend auf frühere Künstlerkollegen wie Beuys etwa, erarbeitet Zurborg eine allgemein gültige Bildsprache, zugleich beruhend auf den Bildern der Moderne, wie auf einem kollektiven Bildgedächtnis.

Stefan Demming entwickelt performative Räume, bei denen jegliches Material zum Einsatz kommen kann. Das Medium Video nutzt Demming sowohl als dokumentarisches Mittel, um die in seiner Welt gefundenen Readymades zu zeigen. Ebenso bezieht er aber oft die Untersuchung der Wahrnehmungsund Darstellungsmedien selbst bis zu einem Grad mit ein, an dem sich das scheinbar Reale in Posie verwandelt. Seine computergesteuerten Inszenierungen verbinden Alltag und Fiktion auf verschiedene Weisen. Sie basieren oft auf Recherchen in realen Lebenswelten, wie zum Beispiel der Suche nach dem Rand der Megalopolis, oder einer Reise mit Nonnen in einem Zirkus durch die USA. Abstraktere Szenerien in seinen Arbeiten haben daher nicht selten ihren Ursprung im Individuellen, Menschlichen. Räumlich arrangiert entstehen daraus audiovisuelle Choreographien, die Themen wie Erinnerung und Gedächtnis, Medienkultur und gesellschaftliche Aspekte unseres Zusammenlebens mit der subjektiven Sicht des Einzelnen verbinden. Die Raum(be)setzungen fungieren dabei gleichsam als Reflexion über Ort und Zeit und das sinnliche Erleben wird dabei zum wesentlichen Bestandteil der Inszenierungen. Betrachter sind eingeladen, Bekanntes und Unbekanntes neu zu erfahren.

Punkt. aus
Fertig! Ganz einfach! Na Also! So oder so ähnlich enden oftmals die zeichnerischen Serien von Harald Falkenhagen. Auf Papier, über Jahre im selben Format und erst neuerdings etwas größer werdend, erzählt der Künstler lapidar darüber, was er gerade tut, führt Selbstgespräche mit Farben und Linien aus denen schnell gefertigte Kleckse oder kleine Skizzen werden. Wie Gedankenblitze tauchen Worte in scheinbar zusammenhanglosen Zusammenhängen auf, treiben ihre Äußerungen auf die Spitze und enden undramatisch mit einem Punkt. Farbliche Setzungen versieht der Künstler mit lakonischen Kommentaren, allemal wie aus dem Ärmel geschüttelt.
Die Serien zaubern dem Betrachter ein Schmunzeln auf die Lippen, auch wenn sie nicht witzig sind im eigentlichen Sinne. Sie veranlassen nicht, laut aufzulachen, vielmehr entlarvt das leise humorvolle Spiel mit Sprache und bildlichen Assoziationen allzu Persönliches. Falkenhagen ernüchtert auf poetische Weise die Kunst, respektive den Hype, den die Kunst durch immer spektakulärere Inszenierungen auszulösen vermag. Er spielt bewusst mit der Möglichkeit des Scheiterns, wenn er fehlerhafte Worte durch Streichungen korrigiert, aus Zufällen modelliert und damit bewusst gegen »gekonnte« Kunst rebelliert. Seine Zeichnungen sind dem filmischen Slapstick insofern verwandt, dass der Versuch (»ich gehe mal ans Fenster und zeichne einige Berge«) immer auch das das Versagen (»…oder ich zeichne einfach das Fenster«) impliziert, und gerade dies den Menschen/Künstler so sympathisch macht.

Sonderpreis
Der Sonderpreis für Peter Jörg Splettstösser geht, laut den Mitgliedern der Jury, an einen Künstler des Landkreises Osterholz, der mit seinem bereits umfangreichen Oeuvre stets Kontinuität und hohe künstlerische Qualität bewies, und also eine herausragende Rolle innerhalb der regionalen Kunstszene spielt, die über ein enorme Ausstrahlung auch nach Außen verfügt.
Leuchtendes Gelb, helles Grün, strahlendes Blau. Diese Farbwerte durchziehen das malerische Werk des in Worpswede lebenden Künstlers Peter-Jörg Splettstößer. Seine nunmehr fast 40-jährige Laufbahn als Künstler wurde in den letzten zehn Jahren im Wesentlichen von zwei Werkgruppen geprägt, die der Künstler kontinuierlich aufbaute und entwickelte. Die sogenannten »Fragmente 1 – 14« entspringen einem konzeptionellen künstlerischen Ansatz und bleiben dennoch Malerei. Dafür zerteilte Splettstößer die Reproduktion von Michelangelos »Weltgericht« (1535 – 41, Sixtinische Kapelle, Rom) zunächst in Streifen und im Verlauf der Arbeit in Quadrate, um diese in der Reihenfolge ihrer Entstehung wiederum auf einen quadratischen Bildträger zu montieren. Das Original, welches zum ersten Mal einen Raum allein durch bewegte Körper darstellte, erhält nun eine weitere Dimension der Verschiebung, Zerteilung und neuer räumlicher Strukturierung. Die malerische Interpretation folgt einem rhythmisierten Farbauftrag, der auch Leerstellen zulässt, gestisch ist und von großer Leuchtkraft. Damit erzielt Splettstößer zum Einen eine subjektive Aneignung der Vorlage, vielmehr aber verfolgt er über die verschiedenen Phasen seiner Fragmente von Raumstehlen bis hin zum Wandbild konsequent eine moderne Befragung des Bildraumes und der Bewegung, welche zu einer erweiterten Wahrnehmung der Gesamtkomposition führt.
Wahrnehmung ist auch Thema einer zweiten Werkgruppe, die 2002 begonnen und bis heute nicht abgeschlossen wurde. Um seinen Blick zu fokussieren, klebt Splettstösser seine Atelier-Fenster ab und lässt nur noch einen Sehschlitz in deren Mitte zu, durch den hindurch er die äußere Realität wahrnimmt. Mit schnellen, nicht gedachten, sondern automatisierten Pinselstrichen entstehen Zeichnungen und Gemälde, die der rasanten Veränderung der Umgebung durch das Licht unterliegen. Neben der Analyse des Bildraumes, wie sie die Werkgruppe »Fragmente 1 – 14« impliziert, erweitert die Serie der »Fensterbilder « die Betrachtung des flüchtigen versus eingehenden Sehens.

Nachwuchspreis
Den jungen Künstler Johann Büsen benennt die Jury mit der Begründung, sein Werk sei einfallsreich, technisch brillant und ungewöhnlich, zum Nachwuchspreisträger. Sie sieht in dieser Position ein großes Potential, sich zukünftig innerhalb der vielfältigen Kunstlandschaft durchzusetzen.
Die virtuelle Welt des world wide web stellt sich für Johann Büsen als unerschöpfliche Quelle an immer neuem Bildmaterial dar. Auf seinem Computer speichert er unablässig Motive in einem mit Schlagworten versehenen großangelegten Archiv. So ist im Laufe von Jahren ein moderner Bildatlas à la Aby Warburg entstanden, aus dem der Künstler reichlich schöpft, um auf seinen kleinen und großen Bildträgern ein Universum ungeahnten Ausmaßes entstehen zu lassen. Scheinbar ungesteuert prallen hier Bilder in einer unüberschaubaren Vielfalt in expressiver Farbgebung, künstlicher Perfektion und reicher Themenauswahl aufeinander. Auch wenn Büsens Werk der Gattung der Malerei zugeordnet werden kann, hat er doch niemals einen Pinsel in der Hand gehabt. Die Bilder entstehen ausschließlich am Computer und werden per Digitaldruck auf Leinwand gebannt. Die synthetischen Oberflächen entbehren jeglichen Künstlerduktus und mögen so gar nicht an einen leidenschaftlichen Maler im klassischen Sinne gemahnen. Einem Urknall gleich wirbeln die einzelnen Bildfragmente durch die Luft und finden nur mühsam zu einer Ordnung, doch Büsen gelingt es, auf rätselhafte Weise eine Balance herzustellen, die der Arbeit eines guten DJs gleicht, der aus unendlichem Musik-Material heraus sampelt und mixt, ohne dabei aus dem »flow« zu geraten. Büsens Bilderkosmos setzt sich aus Comics, Zeitungs- und Fernsehbildern, Filmstills, wissenschaftlichen Abbildungen, Plattencovern, Kunstzitaten und anderen nur vorstellbaren Herkünften zusammen. Ebenso unerschöpflich scheint seine Thematik zu sein: Hass und Gewalt, Körperkult und Animalisches, Geld, Drogen, Sex und Mode, Spieltrieb und Unschuld und, und, und ...
Doch am Ende kreist in diesen auf Leinwand gebrachten Bilderclips doch alles um die Frage der Sehnsucht des Einzelnen nach Individualität, Geborgenheit und dem richtigen Platz im Leben. In der Wirklichkeit und nicht nur in einer virtuellen Welt.